Man könnte durchaus sagen, dass es ohne die Stadt Lissabon keinen Fernando Pessoa gäbe. Ebenso kann man sagen, dass ohne Fernando Pessoa die Stadt Lissabon heute eine andere wäre.
Der heimatverbundene Lyriker schrieb Gedichte über traditionelle portugiesische Themen unter dem Einfluss der Literaturbewegung des Saudosismo, in denen er über sein „tieferes Ich“ nachsann und seine Ängste, niederschmetternde Einsamkeit und den Überdruss ausdrückte, der in so oft überkam.
Fernando Pessoa wurde 1888 im Stadtteil Chiado im vierten Stock eines Wohngebäudes am Largo de São Carlos hinter der Tür Nr. 4 geboren. Dieser Stadtteil zählte neben den Vierteln Baixa und Campo de Ourique zu den wichtigsten Schauplätzen seines Lebens, wie aus vielen Versen seines umfassenden Werks nachdrücklich hervorgeht.
Fernando Pessoa war ein Mensch, der nur ungern reiste. Ausnahme dieser Regel sind die neun Jahre seiner Kindheit in der Stadt Durban in Südafrika, wo sein Stiefvater Konsul war. Da Pessoa abgesehen von diesem Auslandsaufenthalt ansonsten nur sehr wenige Reisen unternahm, pflegte er eine enge Beziehung zu seiner Heimatstadt. Er liebte Lissabon und wollte sicherstellen, dass auch andere die Stadt mit seinen Augen sehen könnten.
Fernando Pessoa schloss kein Studium ab. Er besuchte lediglich zwei Jahre die Geisteswissenschaftliche Fakultät in Lissabon. Als Autodidakt verwandelte er die Nationalbibliothek in sein zweites Zuhause, in welchem er zahlreiche philosophische, religiöse, soziologische und literarische Werke las.
Der unbestrittene Einzelgänger widmete sein Leben den Worten. Er fertigte Übersetzungen an und arbeitete als Publizist, Redakteur, Philosoph, Dramatiker, Essayist und Astrologe... Außerdem gründete er gemeinsam mit Mário de Sá-Carneiro, Raul Leal, Luís de Montalvor, Almada-Negreiros und dem Brasilianer Ronald de Carvalho die Zeitschrift Orpheu.
Fernando Pessoa verbrachte sein Leben zwischen den Büros und Cafés der Stadt Lissabon. In einem der Dienstzimmer lernte er Ophelia kennen, seine einzige bekannte Geliebte. Oft spazierte er vom Café „A Brasileira“, in welchem zahlreiche kulturelle Gesprächsrunden stattfanden, bis zum Platz „Praça do Comércio“, wo er sich im Martinho da Arcada an seinen Tisch saß.
Unruhe und Unbehagen haben Fernando Pessoa während der gesamten 47 Jahre seines Lebens begleitet. Hätte der Dichter jedoch ein anderes Gemüt gehabt, müssten wir heute auf sein umfassendes Werk verzichten. Fernando Pessoa und seine verschiedenen Persönlichkeiten sind mehr als nur ein Vermächtnis. Man könnten sagen, sie sind verlorene Seelen, die während ihrer Existenz erfolglos versuchten, den wahren Sinn des Lebens zu verstehen.
Wenn wir das Leben von Fernando Pessoa in einem Wort zusammenfassen müssten, dann wäre das „Unruhe.“ Sorge, Kummer und Rastlosigkeit sind andere Synonyme, die den Alltag des Dichters beschreiben würden, der in den Ecken und Winkeln der Stadt Lissabon Zufluchtsorte für seine ungewöhnliche Lebensweise fand. Zwischen Cafés und Dienstzimmern erdachte er einen Raum in der Form eines Paralleluniversums, das seinem Leben am meisten Sinn gab.
Das Spiel ist unsere Existenz
„Das Leben zu spielen“ war die bemerkenswerteste Leistung des Dichters. Die literarische Welt nannte die von Pessoa geschaffenen Charaktere Heteronyme. Aus den mehr als 70 Namen stechen jedoch nur vier heraus: Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und das Halb-Heteronym Bernardo Soares.
Die Entstehung dieser Heteronyme ist mehreren Faktoren zu verdanken (die Genialität des Schriftstellers ist, wenn auch der wichtigste, nur einer davon). Manche erachten den Tod seines Vaters und seines Bruders Jorge als auslösendes Ereignis für die Erschaffung der Figuren. Es wurde argumentiert, dass Fernando Pessoa angesichts des Zusammenbruchs seiner eigenen Familie das Bedürfnis empfand, imaginäre Familien zu erschaffen. Neben diesen familiären Motiven spielte auch die Notwendigkeit, die Welt mit den Augen anderer zu sehen, eine große Rolle.
Ein Nichtbuch, geschrieben von einem Mann, den es nicht gab
„Es sind meine Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.“ Mit diesen Worten beginnt Fernando Pessoa das Buch der Unruhe, welches er unter dem Halb-Heteronym Bernardo Soares verfasste.
Das Werk, das er im Alter von 25 Jahren zu schreiben begann und welches ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde, erwies sich als eine Art Labyrinth, in dem der Schriftsteller versuchte, existentielle Fragen zu beantworten wie „Wer bin ich?“ und „Wie kann ich die Realität erklären?“ Es umfasst mehr als 500 Texte ohne Anfang, Mitte und Ende. Die einzige Gewissheit im Buch der Unruhe sind existenzielle Zweifel, unbeantwortete Fragen und die latente Unruhe eines Menschen, der es nie geschafft hat, die Welt um sich herum zu verstehen.
Fernando Pessoa war kein Genie, er war gleich mehrere. Oft werden die verschiedenen Namen, unter denen Fernando Pessoa seine verschiedenen Werke schrieb, als Pseudonyme bezeichnet. Die Heteronyme des Schriftstellers sind jedoch viel mehr als das. Es handelt sich um sein größtes Geheimnis und gleichzeitig sein wichtigstes Vermächtnis.
Obwohl in seinen Werken rund 70 verschiedene Namen anzutreffen sind, werden nur Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campo als Heteronyme erachtet. Der vierte Name, Bernardo Soares, wird als Halb-Heteronym angesehen, da seine Persönlichkeit Eigenheiten aufweist, die denen des Dichters sehr ähnlich sind.
Nachfolgend möchten wir nun etwas detaillierter beschreiben, welche Personen hinter den Heteronymen von Fernando Pessoa stecken und was und wie sie denken.
Alberto Caeiro wurde 1889 in Lissabon geboren. Er wurde früh zum Waisen und verbrachte den Großteil seines Lebens auf dem Land, wo er bei seiner Großtante lebte. Obwohl sein früher Tod erwähnt wurde, gibt es Aufzeichnungen über Gedichte von Alberto Caeiro, die aus dem Jahr 1919 stammen. Er starb an Tuberkulose.
Ideale: Alberto Caeiro tritt für das empirische Wissen ein, das durch konkrete Erfahrungen entsteht. Als Atheist hinterfragt er die Religion nicht, erklärt nur „Ich glaube nicht an Gott, ich habe ihn nie gesehen.“ Er legt großen Wert auf Einfachheit und zeigt Vorliebe für die Natur. Gefühle sind für Alberto Caeiro wichtiger als das Denken.
Stilistische Eigenheiten: Die in den Gedichten von Alberto Caeiro verwendete Sprache ist sehr einfach, geläufig und zielstrebig. Der Dichter hat schlussendlich nur die Grundschule besucht.
Ich glaube nicht an Gott, ich habe ihn nie gesehen.
Wollte er, dass ich an ihn glaube,
Würde er gewiss kommen und mit mir reden,
Durch meine Tür treten
Und sagen: Hier bin ich!
(…)
Álvaro de Campos wurde 1890 in Lissabon geboren. Das Datum seines Todes ist nicht bekannt. Er studierte Maschinen- und Schiffsbau in Schottland, übte den Beruf jedoch nie aus.
Es sind drei unterschiedliche Schaffensphasen von Álvaro de Campos belegt.
Dekadenzdichtung
Nostalgische Sichtweise, Pessimismus, morbide Stimmung... In dieser Phase reist der Dichter auf der Suche nach Inspiration in den Osten, wo er zum ersten Mal mit Opium in Kontakt kommt. Der Konsum der Droge wird zu einer Möglichkeit für Álvaro de Campos, aus „der Realität zu entfliehen.“
Stilistische Eigenheiten: Anwendung des Neo-Symbolismus. Vage Dichtung mit verstärkt suggestiven Bildern und einer gewissen Musikalität.
Ich bin nichts.
Ich werde nie etwas sein.
Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.
Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt.
(…)
Futurismus
Euphorie und Begeisterung, ausgelöst durch den Technologie-Boom. In dieser Schaffensphase distanziert sich der Dichter vollkommen von den beiden anderen Phasen. Die ausgedrückte Zufriedenheit erwies sich jedoch nur als vorübergehend...
Stilistische Eigenheiten: Sintflutartig hervorgebrachte, freie Verse. Oftmals fehlende Satzeichen, im Versuch, die Schnelligkeit der Welt der Technologie nachzuahmen.
Im schmerzenden Lichte der großen Glühbirnen der Fabrik
fiebere ich und schreibe.
Ich schreibe mit knirschenden Zähnen, Raubtier für diese Schönheit,
eine Schönheit, den Alten noch unbekannt.
(…)
Nihilismus
Absolute Verneinung und tiefster Pessimismus. Dazu Rebellion, Wut und Auflehnung gegen die Welt und die Gesellschaft als solches.
Stilistische Eigenheiten: Freie Verse in Alltagssprache mit sehr umgangssprachlichem Ton.
Geht ohne mich zum Teufel
Oder lasst mich allein zum Teufel gehen!
Warum müssen wir denn gemeinsam gehen?
Packt mich nicht am Arm!
(…)
Ricardo Reis wurde 1887 in Porto geboren. Wann er starb, ist nicht bekannt. Er besuchte eine Jesuitenschule und studierte danach Medizin. Als Anhänger der Monarchie wanderte er nach der Gründung der Portugiesischen Republik im Jahre 1910 nach Brasilien aus. Ricardo Reis war ein sehr gebildeter Arzt, der nach den Vorbildern der klassischen Kultur und philosophischen Lehren der griechisch-römischen Antike lebte.
Ideale: Der Mensch ist kein Meister seines Schicksals. Er ist nicht einmal in der Lage, es zu verändern. Das einzige, was ihm übrig bleibt, ist, den Moment mit Gelassenheit zu erleben (carpe diem) und dabei zu versuchen, glücklich zu sein.
Stilistische Eigenheiten: Klassische Sprache und gelehrte Wortwahl. Gepflegte Gedichte mit formaler Struktur. Starke Präsenz von Mythologie und Schicksalsbewusstsein.
Folge deinem Schicksal
Folge deinem Schicksal,
Gieß deine Pflanzen,
Liebe deine Rosen.
(…)